Arbeits- und Sozialversicherungsrecht

BAG-Urteil zu Verfall und Verjährung von Urlaubsansprüchen – Welche Risiken auf Arbeitgeber nun zukommen

„Wenn das ganze Jahr Urlaub wäre, wäre die Erholung so mühsam wie die Arbeit; doch wenn der Urlaub nur selten ansteht, so ist er lange ersehnt und nichts ist erfreulicher als seltene Ereignisse.“ – So ließ bereits William Shakespeare seinen Charakter Prinz Hal, den späteren Heinrich V., König von England, seine Wertschätzung über die arbeitsfreie Zeit im Jahr ausdrücken (freie Übersetzung), wenngleich die Sorge über zu viel Urlaub anklingt. Wenn auch nicht annähernd so blumig wie der englische Dramatiker unterstrich das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit Urteil vom 20. Dezember 2022 (BAG – 9 AZR 266/20) kürzlich die Wichtigkeit des gesetzlichen Mindesturlaubs – mit signifikanten Folgen für Arbeitgeber:

„Der gesetzliche Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub unterliegt der gesetzlichen Verjährung. Allerdings beginnt die dreijährige Verjährungsfrist erst am Ende des Kalenderjahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.“
(BAG-Pressemitteilung 48/22)

Sachverhalt

Damit setzt das BAG die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus einem vorangegangenen Vorabentscheidungsverfahren (vgl. BAG, Vorlagebeschluss v. 29.9.2020 – 9 AZR 266/20 (A) sowie EuGH, Urt. v. 22.9.2022 – C-120/21) um. Demnach verjährt der gesetzliche Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers nur dann nach Ablauf der dreijährigen Verjährungsfrist, wenn der Arbeitgeber seiner Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit gegenüber dem Arbeitnehmer nachgekommen ist, diesen also auf den drohenden Verfall des Urlaubsanspruchs hingewiesen und zur Inanspruchnahme des Resturlaubs aufgefordert hat. Kommt der Arbeitgeber dieser Pflicht nicht nach, beginnt die Verjährung nicht zu laufen. In der Folge kann Urlaub aus weit zurückliegenden Jahren gegebenenfalls in signifikantem Umfang geltend gemacht werden. Im streitgegenständlichen Fall hatte eine Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin nach Beendigung Ihres Arbeitsverhältnisses bei einer Steuerkanzlei die Abgeltung von insgesamt 101 Urlaubstagen aus den Vorjahren gefordert. Das Landesarbeitsgericht sprach der Klägerin die Abgeltung von 76 Arbeitstagen zu. Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.

Entscheidung

Die Tragweite dieser Entscheidung wird bei einem Blick auf die Gesetzeslage, konkret auf das Bundesurlaubsgesetz (BUrlG), deutlich: Gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfällt der im aktuellen Kalenderjahr erdiente und nicht genommene Urlaub zum Jahresende, spätestens aber zum 31. März des Folgejahres. Einfach ausgedrückt: Nimmt der Arbeitnehmer seinen Urlaub nicht im selben Jahr oder unter bestimmten Umständen in den ersten drei Monaten des Folgejahres, so verliert er den Anspruch auf Resturlaub.

Im Gegensatz dazu kennen die Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union einen solchen Verfallsmechanismus nicht. So begründete der EuGH in der Vergangenheit bereits eine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit des Arbeitgebers im Hinblick auf den drohenden Verfall von Urlaubsansprüchen. Das BAG hat diese Rechtsprechung umgesetzt (vgl. BAG, Urt. v. 19.2.2019 – 9 AZR 423/16). Der Arbeitgeber muss nach richtlinienkonformer Auslegung konkret und in völliger Transparenz dafür sorgen, dass der Arbeitnehmer in der Lage ist, seinen Jahresurlaub zu nehmen. Hierzu hat erforderlichenfalls eine förmliche Aufforderung an den Arbeitnehmer zu ergehen, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitzuteilen, dass der Urlaub verfällt, wenn er ihn nicht rechtzeitig nimmt. Damit verlagerte der EuGH das Schicksal des Resturlaubs aus der Einflusssphäre des Arbeitnehmers zu einem signifikanten Teil in die Sphäre des Arbeitgebers.

Vor dem Hintergrund dieser Entstehungsgeschichte mutet das nun ergangene Urteil des BAG auf den ersten Blick nicht besonders überraschend an. Gleichwohl zeichnen sich weitreichende Folgen ab. Während die Rechtsprechung sich in der Vergangenheit mit den Voraussetzungen des bloßen Verfalls des Urlaubsanspruchs am Jahresende beschäftigt hat, wird der Verfall nun im Kontext der gesetzlichen Verjährung diskutiert. Während eine unterbliebene Aufklärung über den drohenden Verfall nach der EuGH-Rechtsprechung zuvor zur Mitnahme des Urlaubs in das Folgejahr führte, verneinen die Gerichte nun auch den Beginn der Verjährung von Urlaubsansprüchen. Zwar finden die Vorschriften der Verjährung auch weiterhin auf den gesetzlichen Mindesturlaub Anwendung. Gleichwohl beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren nicht wie üblich mit dem Ende des Jahres zu laufen, in dem der Urlaub entstanden und nicht genommen wurde, sondern mit dem Ende des Jahres, in dem der Arbeitgeber erstmalig seiner Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit nachgekommen ist. Der EuGH lässt damit den Zweck der Verjährung – die Gewährung der Rechtssicherheit – hinter den Schutz der Gesundheit des Arbeitnehmers, der durch die Inanspruchnahme von Erholungsurlaub gewährleistet wird, zurücktreten. Arbeitgeber können sich demnach nicht auf ihr Bedürfnis nach Rechtssicherheit im Arbeitsverhältnis berufen, wenn sie ihrer Aufklärungspflicht nicht ordnungsgemäß nachgekommen sind.

Praxishinweise

Arbeitgeber mussten bereits in der Vergangenheit sicherstellen, dass Arbeitnehmer gegen Ende des Jahres über die Höhe des verbleibenden Urlaubs sowie den drohenden Verfall der Urlaubsansprüche hingewiesen und zur zeitnahen Inanspruchnahme derselben aufgefordert werden. Dies gilt weiterhin. Das finanzielle Risiko der Nichteinhaltung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit fällt nun jedoch ungleich höher aus.

Es erscheint nicht abwegig, dass sich Arbeitgeber mit Anspruchs- bzw. Klagewellen konfrontiert sehen könnten.

Zwar lässt sich die Einhaltung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit nachholen, allerdings beginnt damit nur der Lauf der Verjährung. Das Risiko der Inanspruchnahme für die Vergangenheit bleibt demgemäß für die folgenden drei Jahre (beginnend am Ende des Jahres, in dem der Hinweisobliegenheit nachgekommen wurde) erhalten. Dabei umfasst die Rechtsprechung Urlaubsansprüche aus der Vergangenheit in zeitlich unbegrenztem Umfang. Es sind also auch solche Ansprüche umfasst, die vor der erstmaligen Erwähnung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit durch den EuGH im Jahr 2018 erdient worden sind.

Eine Nachholung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit erfordert dabei gerade die Nennung der nicht genommenen Urlaubstage. Damit kann das Urteil des BAG immensen Verwaltungs- und Nachforschungsaufwand für Unternehmen verursachen (sofern solche Informationen überhaupt noch in der Personalabteilung vorliegen).

Sollte die Rechtsprechung auch auf den Urlaubsabgeltungsanspruch gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG im Rahmen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses übertragbar sein, sind insbesondere im Zusammenhang mit der Abwicklung gekündigter Arbeitsverhältnisse Forderungen der Arbeitnehmer für die Vergangenheit nicht auszuschließen. Zudem könnten auch bereits ausgeschiedene Arbeitnehmer auf die Idee kommen, ausstehende Urlaubsabgeltung einzufordern.

Arbeits- und tarifvertragliche Ausschlussfristen, sollten sie denn wirksam vereinbart worden sein, waren nicht Gegenstand der diskutierten Entscheidung. Als adäquates Mittel, den Verfall von Urlaubsansprüchen sicherzustellen, können sie jedoch nicht dienen, denn auch sie müssen sich der richtlinienkonformen Auslegung unterordnen.

Infolgedessen bleibt Arbeitgebern nur, die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit gegenüber ihren Arbeitnehmern in jedem Jahr konsequent einzuhalten und den Verjährungslauf dementsprechend aufzuzeichnen, um gegen verspätete Forderungen von Arbeitnehmern gerüstet zu sein.

Die diskutierte Entscheidung betrifft lediglich den gesetzlichen Mindesturlaub im Sinne des § 3 Abs. 1 BUrlG. Der Verfall des arbeits- oder tarifvertraglich gewährten Urlaubsanspruchs bedarf einer gesonderten Regelung, die vor dem Hintergrund der Rechtsprechung umso mehr zu überprüfen ist.

Zudem bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen die BAG-Rechtsprechung auf die im Rahmen der Bilanzierung zu bildenden Urlaubsrückstellungen haben wird.

Gerne unterstützen wir Sie bei der Ermittlung der offenen Urlaubsansprüche und der damit verbundenen Risiken für die Vergangenheit (ggf. auch unter Prüfung und Anpassung der in Ihrem Unternehmen verwendeten Arbeitsvertragsklauseln). Dabei nutzen wir neben unserer arbeitsrechtlichen Expertise unsere Data & Analytics-Methoden, um Ihnen mit Hilfe von Dashboards Risiken und Kosten aufzuzeigen. Darüber hinaus sind wir beim Aufsetzen neuer HR-Prozesse zur Einhaltung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit als Teil Ihrer jährlichen HR-Compliance-Prozesse behilflich.